Würde ich eine Liste mit meinen Lieblingsetappen führen, die heutige würde definitiv keinen Platz darin finden. Das war auch das erste Mal, dass ich mich selber fragte: „Warum tue ich mir das an?“
Es fing alles so gut an
Der Tag startete eigentlich so gut: Gute Nacht im Motel gehabt, pünktlich ausgecheckt und noch fix zu Burger King frühstücken (was dann gar nicht mal so lecker war) – immerhin würde ich heute wohl höchstens kleinere Siedlungen durchfahren. Die Sonne wärmte bereits am frühen Morgen ordentlich und ich konnte endlich seit Tagen mal wieder ohne Arm- und Beinlinge starten. Und so verließ ich Ottawa mit einem guten Gefühl in Richtung Pekin. Bereits nach der Überquerung des Illinois River wurde es sofort ländlich. Noch schlängelte sich die Straße aber durch das hügelige Flusstal – es stand auch direkt der erste kleine Anstieg an. Doch kaum oben angekommen direkt die erste Ernüchterung: Der Wetterbericht hatte Recht, ganz guter Wind.
Pling
Doch noch rollte es sich ganz ok, denn der Wind pustete eher von der Seite. So ließ es sich aushalten, dachte ich. Und kaum war ich guter Dinge, es trotzdem ganz in Ruhe nach Pekin zu schaffen, erklingte das schreckliche Geräusch, das ich eigentlich nie wieder hören wollte: Speichenbruch. Es klang nach Vorderrad, doch alles schien heile. Tatsächlich baumelte eine der schönen schwarzen Speichen aus dem Hinterrad. Mist. Immerhin 15 Tage ohne Speichenbruch – eine bessere Quote als auf der Testfahrt in Deutschland, wo es ja direkt nach einem Tag „Ping“ machte. Meine Laune rutschte aber in den Keller. Hier stand ich jetzt, bereits über 15 Kilometer unterwegs, mitten im Nichts auf einer Nebenstraße. Erste Aktion: Nach Fahrradläden suchen. Natürlich war der nächste in Ottawa, doch ich wollte nicht umdrehen. Ich fand einen an meinem Zielort, aber würden die restlichen Speichen die zusätzliche Belastung über 120 Kilometer aushalten? Ich riskierte es. Gebrochene Speiche mit Klebeband an der Nachbarspeiche fixiert und wieder aufs Rad.
„Soll ich vorbeikommen?“
Die nächsten Kilometer hatte ich ein ganz mieses Gefühl. Alle Gedanken drehten sich um die Speiche. Mein Vertrauen in das Rad war wieder weg. Sollte ich nicht doch lieber aufgeben? Was, wenn mir das im noch ländlicheren Kansas passiert? Wie lange halten wohl die anderen Speichen aus? Als ich dann irgendwann von meiner immer nach Süden fahrenden Straße Richtung Westen abbog, erreichte ich wohl den Tiefpunkt des Tages. Jetzt wehte mir der Wind auch noch direkt ins Gesicht. Selbst mit Anstrengung schaffte ich nur knapp 20 km/h – und es gab keinen Gipfel, auf den man hinarbeiten konnte. Zum Glück ist Illinois selbst mitten im Nichts gut mit Handynetz abgedeckt und ich konnte mir etwas Motivation aus der Heimat holen. Mama schrieb scherzhaft, ob sie mich abholen sollte. Nichts hätte ich mir in diesem Moment lieber gewünscht.
Immerhin keine mich jagenden Hunde
Erlösung nach knapp sechs Kilometern Quälerei: Endlich wieder gen Süden. Auch wenn der Seitenwind nicht gerade komfortabel war, so genoss ich es, wenigstens etwas weniger Widerstand zu haben und versuchte, das Beste daraus zu machen. Immerhin eine Sorge konnte ich etwas zur Seite legen: Die Angst vor den wilden Hunden auf den Farmen. Wie mein Host in Michigan City, Harvey, mir schon prophezeite, wurden die Abstände zwischen den Farmen hier immer größer. Grund war der 1862 von Lincoln erlassene Homestead Act, nachdem jeder Amerikaner über 22 Jahre ein Stück unbesiedeltes Land für sich beanspruchen konnte und es behalten durfte, wenn er es fünf Jahre lang bewirtschaftet. Diese Grundstücke waren meist eine Meile lang und breit – das passte exakt, wie ich heute feststellte. Die Abstände zwischen den Backroads, die wie ein Schachbrettmuster verliefen, waren immer 1,6 Kilometer – genau eine Meile. So kalkulierte ich mir immer auf meinem Garmin, wie weit ich noch den Gegenwind ankämpfen musste. Und Hunde habe ich tatsächlich nur einen gesehen, der auch noch ruhig auf der Terrasse liegen blieb.
20 Kilometer im Gegenwind
Das wohl härteste Stück des Tages folgte direkt nach dem etwas erholsameren Part: 20 Kilometer immer nur gen Westen. Ursprünglich sollten es laut Routenplanung zwar nur 13 sein, aber dann hätte ich noch einmal etwa 10-12 Kilometer weiter südlich das gleiche Spiel gehabt. Ich entschied mich also, weiterzufahren, um die diagonal verlaufende Route 89 zu erreichen und mir so den direkten Gegenwind zu sparen. Im Nachhinein die richtige Entscheidung, auch wenn der Wind dann immer mehr auf Südwest drehte und mir trotzdem genau entgegenwehte. Trotzdem bot die etwas mehr befahrene Straße streckenweise einige Bäume als Windschatten und es gab auch kleinere Siedlungen, die auch Windschatten spendeten.
Auf der Suche nach Wasser
Obwohl der Wind es einen nicht spüren ließ, kratzten die Temperaturen mittlerweile fast an der 30°C-Marke. Habe ich mich letztens noch darüber beschwert, dass es zu kalt war, hätte ich es heute gerne wieder etwas kühler gehabt. Der Hals trocknete viel zu schnell aus und meine Trinkflaschen leerten sich entsprechend schnell. Dazu kam das sehr anstrengende Ankämpfen im Wind. Seit geraumer Zeit war ich deshalb bereits auf der Suche nach jemandem, den ich irgendwo auf seiner Terrasse oder im Garten nach Wasser hätte fragen können. Doch dazu muss man erstmal Häuser am Straßenrand finden. Ziemlich erschöpft erreichte ich irgendwann Washburn, das ich bereits 10 Kilometer im Voraus auf meinem Garmin als größere Ansammlung von Straßen ausfindig machen konnte und alle Hoffnung hierauf legte. Für den Notfall hätte ich zwar noch Wasser in der Tasche gehabt, aber ich wollte auch eine kleinere Pause machen und war irgendwie zu faul, die Tasche hinten aufzumachen.
Roadhouse
Noch vor dem eigentlichen Ortseingang stand links an der Straße ein Haus mit einem Schild – „Webb’s Roadhouse“. Von außen konnte man nicht erkennen, ob geöffnet oder geschlossen war, aber da ein Motorrad mit Beiwagen vor dem Haus parkte, bog ich auch auf den Parkplatz ab. Ich betrat das Haus und fühlte mich wie in einem amerikanischen Spielfilm: Ein recht dunkler, großer Raum, größtenteils erleuchtet von den Neonröhren der Biermarken-Logos – die große Bar in einer Ecke des Raumes, in der gegenüberliegenden Ecke eine leere Bühne. Dazwischen ein paar Stehtische und Stühle. An der Bar saß ein älteres Biker-Ehepaar. Ich bestellte mir fix eine große Cola („Is Pepsi ok?“) und kam ziemlich schnell mit dem Biker-Paar und den zwei Kellnerinnen über meine Tour ins Gespräch. So erreichte unsere Facebook-Seite heute nicht nur seine 100 Likes (juhu!), sondern ich erfuhr auch noch von einem Fahrradladen in der nächstgrößeren Stadt Washington, den hier jeder in der Gegend kennt und bei dem der Vater der Kellnerin ab und an arbeitet, um die Rabatte zu auszunutzen. Die Pepsi hat übrigens so gut wie lange nicht mehr geschmeckt und ich war froh, dass mir ständig kostenlos nachgefüllt wurde.
Russel’s Cycling and Fitness
Endlich wieder mit Energie im Körper und neuer Motivation ging es wieder aufs Rad. Die nächsten Kilometer konnte ich endlich wieder etwas schneller gegen den Wind fahren, wobei mir ein paar Hügel auch hier das Tempo nahmen. Ziemlich schnell war ich dann in Metamora und dann in Washington, wo ich dann zuerst den mir empfohlenen Radladen „Russel’s Cycling and Fitness“ ansteuerte. Sofort wurde das Trek in Empfang genommen und verarztet – Ersatzspeichen hatte ich ja zum Glück dabei. Nebenbei hatten die anderen Speichen einen kleinen ungewünschten Test bestanden und sogar fast 100 Kilometer mit zusätzlicher Last überstanden. Das Vertrauen in das Rad war wieder da. Während das in der Werkstatt verschwand, ging ich kurz rüber zu „Hardees“, einem nächsten Punkt auf meiner Fast-Food-Liste. Auch hier gab es jetzt ein „4 for $4“-Menü, das ich ausnutzte. Noch während ich an meinem Cheesburger arbeitete, kriegte ich schon den Anruf, dass ich mein Rad wieder abholen konnte. Zwar um 35 Dollar ärmer, aber dafür mit heilen Hinterrad und sogar geputztem Ritzel und sauberer, geölter Kette ging es jetzt auf die letzten Kilometer Richtung Ziel.
Endlich in Pekin
Jetzt folgte ich der Route 24, der ich auch die nächsten Tage durchgehend folgen werde. Leider war sie hier ab Washington sehr voll und einen Seitenstreifen gab es teilweise nicht. Mit dem Verkehr rollte es sich aber trotzdem recht gut und ich hatte das Gefühl, dass ich entweder viel Windschatten oder der Wind etwas abgenommen hatte – die letzten Kilometer verflogen jedenfalls ziemlich schnell. In Pekin angekommen hatte ich noch etwas Zeit, ehe meine Warmshowers-Hosts wieder zu Hause sein würden. Ich fand einen All-you-can-eat Asiaten, den ich zum Auffüllen meines leeren Magens gut ausnutzte. Später ging es dann nach einem kurzen Stopp im Supermarkt zu meiner heutigen Unterkunft – auch hier genieße ich wieder ein Gästezimmer mit eigenem Bett. Besser als jedes Hotel – und die Gespräche mit den Hosts sind immer unbezahlbar. Mit Len und Becky saß ich nach meiner sehnlichst erwarteten Dusche auch noch draußen auf der Terrasse. Irgendwann erzählte mir Len von einem Fahrradladen, dessen Inhaber bereits mit 14 in der Garage seiner Eltern angefangen hatte, Räder zu reparieren. Und es war tatsächlich „Russel’s“, der wohl ein Klassiker hier in der Gegend ist und sogar zu einem der besten Bike-Shops des Landes zählt.
Morgen wieder im Gegendwind
Morgen geht es weiter Richtung Quincy – ob ich es bis dahin schaffe, ist fraglich, denn das wären knapp 180 Kilometer. Der Wind soll weiterhin aus Westen kommen, dazu sind ab Mittags Gewitter-Schauer angesagt. Wo ich morgen lande, weiß ich also noch nicht, und eine Unterkunft habe ich entsprechend auch noch nicht. Mein Hintern lässt auch mal wieder grüßen, vielleicht lasse ich es einfach ruhig angehen. Immerhin für Sonntag ist wieder Rückenwind angesagt – aber auch weiterhin Gewitter und Regen, fast bis Mitte nächster Woche. Dann hoffe ich bereits in Kansas zu sein, aber mal abwarten, wie mein Körper da mitspielt. Jetzt freue ich mich erst einmal auf das Frühstück morgen – Len und Becky haben „Spudnuts“ angekündigt, Donuts aus Kartoffeln. Ich bin gespannt!
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