Nach den ganzen Auf- und Abstiegen in den Appalachen stand heute eine ziemlich flache Etappe an – 160 Kilometer entlang des Casselman River auf der Great Allegheny Passage, auch kurz GAP genannt.
Unschlüssigkeit
Nachdem ich ja wie bereits gestern geschrieben doch noch einen „Mitbewohner“ im Hostel bekommen hatte, habe ich ihn direkt gefragt, wo er herkommen würde. „Pittsburgh“, verriet er stolz, und ich dachte nur: Wenn er das mit seiner nicht mehr ganz so sportlichen Figur auf einem alten Klassiker-Rennrad mit hauchdünnen Reifen ohne Profil an einem Tag schafft, dann kriege ich das locker hin. Ich wollte wissen, wann er denn losgefahren sei. Doch statt wie von mir erhofft mit einer Uhrzeit antwortete er nur, dass er Montag losgefahren sei. Vier Tage für die 160 Kilometer?
Kurze Nacht mit vielem Hin- und Herüberlegen
Das brachte mich trotzdem nicht von meiner Idee ab, die Etappe an einem Tag anzugehen. Viel mehr waren das Wetter und mein Hintern, der sich so langsam auch zu Wort meldete, Gründe für meine vielen Gedankengänge: Bleibe ich noch eine Nacht im Hostel und lege hier bereits einen Ruhetag ein? Für heute waren Gewitterschauer angekündigt. Oder fahre ich lieber nach Pittsburgh, lasse mich schön bergab rollen und kann dort in der Zivilisation auch irgendwo Wundsalbe kaufen? Ich beschäftige mich noch die ganze Nacht mit dieser Frage, denn schlafen konnte ich im Gegensatz zu Joe, wie er sich vorgestellt hatte, nicht. Bestimmt im Stundentakt kamen die laut hupenden Güterzüge direkt hinter dem Haus vorbei, zusätzlich machte Joe die ganze Zeit auch Dampflok-Geräusche.
Schlafplatz-Suche in Pittsburgh
Um sechs Uhr morgens entschied ich, nicht noch einmal so eine Nacht mitmachen zu wollen. Außerdem hatte sich der Wetterbericht etwas gebessert. Jetzt hieß es also, eine Unterkunft in Pittsburgh ausfindig zu machen. Ich wollte noch einmal Warmshowers ausprobieren und schrieb fünf Hosts an, die in den letzten Tagen aktiv waren – es gab in der Stadt zwar viel Auswahl, aber die meisten waren schon sehr lange nicht mehr aktiv. Danach hab ich schon alles zusammengepackt und zur Stärkung noch ein frisches Breakfast Sandwich genossen.
Auf zum GAP
Kurz vor dem Start genoss ich noch einmal den Luxus einer Standpumpe, die es in dem Hostel gab. Mit etwas mehr Druck auf den Reifen ging es also los – direkt hinter dem Ort bog ich auf den GAP ab. Dieser insgesamt etwa 240 Kilometer lange, geschotterte Radweg führt immer entlang des Flusses von Cumberland nach Pittsburgh, meistens auf alten Eisenbahntrassen. Theoretisch sollte es also auch nur bergab gehen.
Zu früh gefreut
Dass es dann gefühlt doch nur höchstens eben war, merkte ich dann direkt nach einigen Metern auf der Schotterpiste. Mit dem ganzen Gewicht in den Taschen und dem Belag musste ich trotzdem gut in die Pedale treten, um voranzukommen. Dennoch ließ es sich auf dem feinen Schotter gut fahren. Bis Mittags war dieser auch noch so feucht, dass es nicht ganz so doll staubte.
Langeweile
Bereits nach wenigen Kilometern wurde mir langweilig. Wie soll das dann erst im mittleren Westen werden? Die Strecke war zwar von der Natur her sehr schön, es sah aber immer gleich aus. Vor mir Schotter, links Abhänge mit Wald und rechts der plätschernde Fluss. Auf der anderen Seite des Wassers verlief die Eisenbahnlinie, die aber zumindest bis zur nächstgrößeren Stadt außer Betrieb gewesen zu sein schien. So kam nicht mal einer der gefühlt einen Kilometer langen Güterzüge vorbei. Dafür aber ein Ranger-Pickup, der auf den Gleisen Patrouille fuhr. Ansonsten waren Brücken und der eine Tunnel in der ersten Stunde meine Highlights. Dummerweise muss ich irgendwo meine Ohrstöpsel verloren haben, sonst hätte ich wenigstens Musik hören können.
Aua
Erst ab der ersten Siedlung, Confluence, passierte etwas. Mir kamen direkt zwei gut gelaunte Gruppen Rennradfahrer entgegen. Ab jetzt folgten immer wieder Begegnungen mit teilweise gut bepackten Fahrradfahrern. Die Langeweile wurde eh von einem ganz anderen Problem verdrängt: Der Hintern meldete sich wieder. Teilweise sogar so stark, dass ich kurze Strecken im Stehen gefahren bin – da hab ich ihm wohl in den ersten Tagen etwas zu viel zugemutet. Die nächsten Kilometer quälte ich mich also weiter und der immer gleich aussehende Weg wurde zur Nebensache.
Immer noch keine Rückmeldungen
Dazu kam die Ungewissheit, wo ich heute Nacht schlafen würde. Mittlerweile war es Mittag und es hatte sich immer noch keiner auf meine Anfragen zurückgemeldet. Nervenaufreibend war auch, erst überhaupt Netz zu finden, um die Mails checken zu können – die erste Tageshälfte lief durch so abgelegene Gebiete, dass selbst mein Garmin Probleme hatte, mich korrekt zu positionieren.
Double Cheese
Irgendwann kam zum Glück die etwas größere Stadt Connesville, wo ich eine Mittagspause bei meinem bisherigen Fast-Food-Favoriten „Wendy’s“ einlegte. Ein kleines (!) Sundae wurde mir übrigens in einem Becher serviert, der in Deutschland dem mittelgroßen Getränk entspricht. Gut gestärkt ging es also weiter. Ich hatte immerhin fast die Hälfte des Weges geschafft, aber wenn es nach den Schmerzen ginge, hätte ich am liebsten sofort kapituliert. Doch Augen zu und durch. Mit immer wieder wechselnden Sitzpositionen arrangierte ich mich irgendwie.
Wolkenbruch
Kurzer Check auf dem Wetterbericht: Erste Gewitterschauer für 15 Uhr erwartet, jetzt war es gerade erst kurz nach zwölf. Der Gedanke, noch im trockenen in Pittsburgh anzukommen, reizte mich. Aber irgendwo hatte ich da einen Fehler in meiner Rechnung. Etwas früher als gedacht zog sich der Himmel dann zu, ich war aber erst kurz vor West Newton, etwa bei Tageskilometer 110. Seit einigen Kilometern war die Strecke immer besser ausgestattet und es gab viele Rast- und Campingplätze entlang des Weges. Gerade als ich einen dieser Campingplätze mit Unterstellmöglichkeiten rechts hab liegen lassen, fing es natürlich an zu Regnen. Also kurz angehalten und das erste mal den Regencape ausprobiert – das klappte sogar erstaunlich gut. Ich musste jetzt nur mit etwas mehr Windwiderstand kämpfen. In West Newton selbst fuhr ich fix zum Rite Aid Pharmacy rauf, um mich einerseits trocken unterstellen und andererseits direkt nach einer schönen Salbe fragen zu können.
Neue Motivation
Mittlerweile war es drei Uhr nachmittags und ich hatte zwar eine schöne Salbe, aber immer noch keine Rückmeldung wegen einer Unterkunft. Das wurde mir zu bunt und so buchte ich zähneknirschend ein Zimmer über airbnb. Die Latte lag mit dem echt guten Zimmer in Philadelphia ja sehr hoch und irgendwie kommt seitdem keine Unterkunft mehr an das heran. Egal, jetzt hatte ich erst einmal eine sichere Unterkunft für die nächsten zwei Nächte. Alleine dieser Gedanke linderte die Schmerzen auf eine wundersame Art und ich rollte mit neuer Motivation in Richtung Pittsburgh – jetzt waren es auch nur noch 50 Kilometer.
Graue Industrie
Irgendwann folgten auf die ersten suburbanen Siedlungen, durch die sich der GAP noch schlängelte, dann Industrieanlagen. Da war mir die „langweilige“ Natur doch um einiges lieber als diese grauen Felder aus Eisenbahnschienen, Müll und riesigen Hallen. Aus Bäumen und dem Fluss wurde jetzt ein hoher Maschendrahtzäunen auf jeder Seite. Schöner wurde es erst wieder ab Homestead, wo der Weg wieder direkt an das Flussufer führte.
Kurz vor der Ankunft gab es noch einmal Regen, immerhin mit schönem Ausblick auf Pittsburghs Skyline
Zu viel Auswahl in der Carson Street
Nach einem weiteren Schauer war ich endlich am Ziel angekommen – mein Zimmer mit eigenem Eingang im anscheinend coolen In-Viertel Southside. Nach der Dusche ging es also direkt los – vor lauter Auswahl wusste ich hier gar nicht, wo ich was essen sollte. Am Ende wurde es asiatisch, wobei die Kellnerin aus Österreich kam. Am morgigen Ruhetag werde ich mir die Stadt dann mal genauer ansehen – dann soll das Wetter auch wieder besser werden.
Die Etappe auf Strava
Eine Antwort auf „160 Kilometer Schotter“
Och man – wieso lese ich das erst jetzt… meine Gasteltern leben in Homestead… die haben glaube ich auch gerade sogar Austauschschüler :( :( sorry Max! Weiterhin gute Fahrt!