Zehn Grad im Januar? Trockene Straßen? Dieses frühsommerliche Wetter muss ausgenutzt werden. Uni und Arbeit lassen mich trotz kitzelnder Sonnenstrahlen tagsüber nicht raus. Also schwinge ich mich nach dem Abendbrot aufs Rad und radle 100 Kilometer bei Finsternis durch den Grunewald. Da man Nachts viel zu viel Zeit zum Nachdenken hat, könnt ihr hier meinen Gedankenerguss nachlesen.
Beim Losrollen ist die Welt noch vollkommen in Ordnung. Die Straßen noch recht voll, die Laternen hell und tatsächlich wie angesagt die Luft auch noch schön warm. Aus Zeitmangel wollte ich den January Gran Fondo heute mal in die Nacht schieben. Eine Nachtfahrt wollte ich schon länger mal wieder machen, mich etwas mehr mit der Dunkelheit anfreunden. Bisher sind wir keine guten Freunde gewesen. Nach einem Artikel von Lisa bin ich höchst motiviert, vier Runden sollen es werden. Los geht’s, ich biege am Auerbachtunnel in die Dunkelheit ab.
Runde 1: Im Dunkeln sieht man mehr
Huch, ist das dunkel. Und gleichzeitig hell. Die entgegenkommenden Radfahrer blenden ganz schön. Blende ich auch? Ich justiere an meinem Fronstrahler herum. Noch scheint viel los zu sein auf der Krone, mir kommen einige Radfahrer entgegen, mehrere Jogger und Spaziergänger kann ich im Dunkeln ausmachen. Erstmals seit Langem höre ich wieder Musik, der Knopf im Ohr ist drin, die Playlist startet.
Die Krone ist schnell gemacht, das war doch einfach. Auf der Havelchaussee bleibe ich ebenfalls nicht alleine. Ein Auto fährt ausnahmweise mal vorschriftsgemäß und bleibt deshalb vor mir immer in Reichweite, leuchtet mir quasi den Weg. Was mir jetzt schon auffällt: Nachts sieht irgendwie alles anders aus. Man sieht auch mehr. Da sind plötzlich Lichter und Häuser, besonders links beim Blick über die Havel, darauf habe ich vorher nie geachtet. Es ist wunderschön. So schön, dass es mich zu sehr ablenkt und ich fast auf einen Baum zusteuere. Noch rechtzeitig eingelenkt.
Von weitem sehe ich schon den Willi hell erleuchtet über mir. So schön habe ich ihn noch nie gesehen. Das motiviert zur Auffahrt. Jetzt zieht das Auto vor mir weg, es wird erstmals richtig dunkel. Ein wenig gruselig ist es schon, aber die Musik macht viel aus. Ich singe etwas mit, hier ist ja eh kein Mensch mehr unterwegs. Die Abfahrt im Dunkeln macht wahnsinnig Spaß. Irgendwie besonders, so ins Dunkle zu rasen. Abzweig Postfenn: Erster Fuchs des Abends gesichtet. Dann leuchtet plötzlich ein riesiger Industriekomplex vor mir auf. Es ist der Erdgasspeicher, aber so hell beleuchtet sieht er komplett anders aus als tagsüber. Eher wie die Area 51 von Berlin. Ich habe das Gefühl, dass ich hier nicht sein dürfte. Schnell weiter.
Runde 2: Ah, ein Mörder
Über die Parallelstraße zur Heerstraße gelange ich fix wieder zurück zur Krone. Es ist schon leerer geworden auf den Straßen, und als ich wieder in die Dunkelheit abtauche, kommen mir erst mal keine Radfahrer mehr entgegen. Später sehe ich ein Rücklicht am Horizont. Je näher ich komme, desto mehr schwankt das Licht vor mir. Ich überhole mit weitem Abstand, aber plötzlich habe ich das Gefühl, dass der Radfahrer sich mein Hinterrad schnappt und gleichzieht. Ich gebe Gas, das Licht hinter mir bleibt hell, was ist das denn jetzt? Bei dieser Situation muss ich an das Zitat von Stromberg denken, das auch Langstreckenradlerin Eva in einem Artikel auf ihrem Blog hervorhebt:
Wenn im Wald ein Wolf einem Wolf begegnet, dann denkt er sich: Ah, sicher ’n Wolf. Aber wenn ’n Mensch im Wald einem Menschen begegnet, dann denkt der sich: Ah! Sicher ’n Mörder!
Bernd Stromberg
Ein paar Sekunden später Erleichterung: Licht und Schatten haben nur einen Streich gespielt, der Radfahrer ist längst weit hinter mir. Abzweig auf die Havelchaussee. Jetzt plötzlich ganz allein. Alles wirkt dunkler, der Aufstieg zum Willi jetzt noch länger. Lieber noch einmal umdrehen, ob mich auch wirklich kein Tier verfolgt. Kurzer Stopp am Willi für das einzige Foto der Nacht und Sichtung von Fuchs Zwei.
Als ich mich gerade aufs Rad schwingen will: Regentropfen. Das war doch gar nicht angesagt! Und das macht den einzigen Grund für diese blöde Idee zunichte. Egal, jetzt bin ich eh schon dabei. Es bleibt dunkel, aber die Lichter auf der anderen Seite der Havel faszinieren mich wieder. Beim Aufstieg des Postfenns kann man rechts die Silhouetten der Radartürme auf dem Teufelsberg sehen. Weiter hinten leuchtet grün der Funkturm. Jetzt ist wieder alles gut.
Auch die Sportzentren zwischen Messe und Grunewald sehen Nachts irgendwie ganz anders aus. Hier überhole ich ein Polizeiauto, das plötzlich Fahrt aufnimmt. Will es mich anhalten? Es zieht vorbei, bleibt aber noch länger vor mir. Polizeiautos reflektieren sehr schön im Dunkeln. Und geben auch ein schönes Gefühl von Sicherheit. Ob sich die oder der Polizist*in über meine helle Beleuchtung am Rad freut? Und warum bleibt der kleine Blaulicht-Corsa nicht einfach mein Begleitauto für die zweite Hälfte? Am S-Bahnhof Grunewald verschwindet das Auto in der Ferne. Das sind aber nicht die vorgeschriebenen 30 Stundenkilometer, Frau oder Herr Kommissar*in! Am Auerbachtunnel biegt das Auto dann ab. Frech!
Runde 3: Warum liegt hier eigentlich Strom?
Der Übergang von den beleuchteten Straßen auf die dunkle Krone ist auch beim dritten Mal noch gewöhnungsbedürftig. Dieses Mal bleibe ich alleine. Fast: Manni überholt mich wieder an gleicher Stelle mit seiner S-Bahn. Ich fahre anscheinend im gleichen Takt. Als ich auf die Havelchausse abbiegen will, steht da auch noch einmal jemand im Dunkeln. Ich erschrecke kurz, doch der Typ dreht sich ganz gelassen eine Zigarette. Oder was man sich eben sonst einen Kilometer weit von der nächsten Straßenlaterne entfernt so dreht. Ich bin auch wieder beruhigt. Kurvenlicht wäre übrigens auch toll fürs Fahrrad.
Der Regen wird immer mehr. The Rasmus sing mir „this is my paradise“ aufs Ohr. Irgendwie eher nicht. Ich überlege gar, abzubrechen. Seit dem Auerbachtunnel steht da diese 50 auf dem Garmin. Die ersten beiden Runden gingen doch so schnell, jetzt will die Zeit kaum noch vergehen. Anstieg auf den Willi, schon wieder länger als vorher. Und immer noch diese 50 da auf dem Garmin. Ich habe generell das Gefühl, dass das Garmin nachts langsamer läuft. Da fühle ich mich, als würde ich durch die Nacht rasen, gucke aufs Display und kann froh sein, nicht vom Jogger überholt zu werden.
Wird die Nacht wirklich dunkler? Oder werde ich nur müder? Ich sehe immer weniger helle Sachen. Die paar Straßenlaternen kommen mir jetzt auch viel zu hell vor. Und wie Oasen strahlen mitten im Nichts diese hell erleuchteten Bushaltestellenhäuschen der BVG. Warum liegt hier eigentlich Strom? Ich wünschte ich hätte meinen Lenkeraufsatz, dann könnte ich wenigstens etwas schlafen. Mittlerweile singe ich auch schon gar nicht mehr mit, merke kaum, welches Lied läuft. Entweder bin ich gerade voll im Flow, voll im Eimer oder schon komplett woanders.
Runde 4: Doch noch ein Mörder
Die Krone ist wieder komplett leer, die No Angels singen was von „Daylight“ und „Sunshine“, das ist jetzt ganz weit weg. Die Krone wieder für mich, aber am Hüttenweg sehe ich ein Auto mit laufendem Motor parken. Erst mal nichts unnormales. Dann fährt es aber los und bleibt die ganze Zeit hinter mir. Kennt ihr das, wenn ihr extra die Straßenseite wechselt, damit eine Person vor euch keine Angst haben muss? Ich wünschte das Auto würde mal die Seite wechseln. So langsam kriege ich Panik. Doch ein Mörder? Überhol doch endlich!
Ich biege auf die Havelchaussee ab. Das Auto auch. Jetzt wird’s wild. Aber an den Abfahrten kann ich etwas Vorsprung gewinnen. Als mich das Auto am Anstieg zum Willi wieder einholt, rufe ich die Basis an. Falls ich jetzt entführt oder ausgeraubt werde, soll man wenigstens wissen, wo. Dann die große Erleichterung: Es ist die Polizei. Zwar ein anderes Auto, aber dann hat das mit dem Begleitauto ja doch noch irgendwie geklappt. Ich muss kurz laut lachen. Und in den nächsten Abfahrten etwas bremsen, ich will ja nicht doch noch angehalten werden.
Extrarunde auf der Schlossstraße
Dann endlich der Rückweg. Endlich wieder durchgehend beleuchtete Straßen. Menschenleer, aber nass. Und ich komplett dreckig. Kurz vor Schluss merke ich: Das wird knapp mit den 100 Kilometern. Fühle mich wie ein Pilot, der sich verkalkuliert hat und begebe mich wie vom Tower befohlen auf eine Extrarunde auf die Schlossstraße. Dann: Punktlandung in Steglitz. Die 100 sind voll, ich erledigt, das war doch irgendwie eine blöde Idee.
Tut mir leid, dass aus einer eigentlich so unspektakulären Fahrt so viel Text geworden ist. Mir kamen während dieser Fahrt einfach viel zu viele Gedanken. Ich habe gemerkt: Nachts fahren muss gar nicht so schlimm sein. Die Musik hat viel geholfen. Danke an Lisa für die vielen Tipps und die Motivation. Und natürlich an Strava. Wenn die diese blöde Herausforderung nicht hätten, wäre ich gar nicht rausgefahren.
2 Antworten auf „Nachts im Grunewald“
Schöne Story 🤓
Hey Max,
toller Artikel und super, dass ich dich dazu motivieren konnte dem Thema Nachtfahrten eine Chance zu geben! Dass du dir gleich den Grunewald ausgesucht hast – Respekt! Da wird’s mir auch manchmal etwas unheimlich im Dunkeln…Umso mehr freut mich, dass du es sogar trotz des miesen Wetters durchgezogen hast und anscheinend, zumindest stellenweise, auch Spaß hattest. Beim Lesen musste ich jedenfalls mehrmals grinsen, nicht nur, weil der Text wirklich gut geschrieben ist, sondern auch, weil ich vieles so gut nachempfinden konnte. Vom Wunsch nach Kurvenlicht für Radfahrer*innen, bis hin zu der Situation mit dem gruselig, langsam hinter einem fahrenden Auto…Immer wieder faszinierend, wie viel doch während einer einzelnen Nachtfahrt in einem vorgeht. Auf weitere (nächtliche) Raderlebnisse bei hoffentlich bald milderen Temperaturen!