140 Kilometer? Kein Thema. 3.400 Höhenmeter? Puh. Drei alpine Anstiege? Wird schon klappen. Einer davon der Mortirolo? „Warum tun wir uns das nur an?“
Noch immer begeistert von unserer Alpen-Tour vor zwei Jahren stolperten Philipp und ich im Winter über den Gran Fondo Stelvio Santini: Ein Rennen rund um das namensgebende und berühmte Stilfser Joch. Von drei Distanzen entschieden wir uns wie fast schon selbstverständlich direkt für die längste, die zusätzlich noch den Mortirolo und einen Anstieg nach Teglio enthielt. Angesetzt waren 150 Kilometer und mehr als 4.000 Höhenmeter – klang doch ganz machbar? Doch je mehr das Event im Frühjahr dann näher kam, desto aufgeregter wurden wir: Schaffen wir das überhaupt? Vor allem ich zweifelte ohne wirkliches Bergtraining doch stark an mir – spätestens, nachdem ich über Ostern plötzlich nicht mehr an lippischen Anstiegen mitkommen konnte.
Tiefpunkt am Vorabend
Meinen Tiefpunkt hatte ich dann am Abend vor dem Start. Nach einer aufregenden und langen Anfahrt nach Bormio holten Philipp und ich uns mit dem Rad unsere Startnummern in der Stadt ab. Bereits bei der Abfahrt fiel uns auf: Unsere Unterkunft liegt zwar direkt neben Bormio, aber eben auch leider 300 Meter höher. Als es auf dem Rückweg am Abend diese wieder hochzuklettern galt, merkte ich plötzlich, wie wenig ich an die Berge gewöhnt bin und machte mir plötzlich doch sehr Sorgen, ob das mit der langen Distanz und dem Mortirolo überhaupt so eine gute Idee war. Es galt zudem eine Taktik zu finden: Fahren wir beide das Event möglichst gemeinsam? Oder sollte ich Philipp lieber sein Tempo fahren und ziehen lassen?
Erst einmal lange bergab
Dank Philipps motivierender Worte ging es dann früh am nächsten Morgen doch mit mehr Vorfreude als Angst an den Start. Vor dem Startschuss um 7 Uhr sammelten sich einige hunderte Radfahrer in den engen Gassen Bormios – bereits da schon ein beeindruckendes Bild. Auch merkte man hier bereits, dass das Teilnehmerfeld aus den unterschiedlichsten Ländern kommt, überall um uns herum verschiedene Flaggen auf den Startnummern. Auf den Start folgten dann erst einmal 33 Kilometer entspanntes Bergabfahren, bis wir an einen ersten kleinen Anstieg kamen, an dem Philipp und ich uns bereits unsere Arm- und Beinlinge wieder auszogen. Hier fehlt definitiv noch eine Möglichkeit, sich statt warmer Sachen im Ziel abzuholen lieber überflüssige Kleidung am ersten Anstieg wieder abgeben zu können – später waren uns die vollen Taschen auf dem Rücken aber eh egal, wir hatten ganz andere Sorgen.
Stau am Anstieg
Anschließend ging es noch einmal zehn Kilometer ziemlich flach und leicht abschüssig weiter. Philipp und ich genossen dieses zügige und entspannte Einrollen auf den ersten Kilometern sehr und waren begeistert, dass wir trotz Alpen über 40 km/h Durchschnittstempo auf dem Garmin lesen konnten. Doch so konnte es natürlich nicht immer weitergehen: Der erste Anstieg begann direkt ziemlich plötzlich hinter einer Kurve – und ließ sich überraschend gut fahren. Um mich herum fuhren Leute schön beständig, man konnte trotz enger Straße noch links überholen und meine Beine fühlten sich auch gut an. Lediglich einmal wurde es so eng, dass plötzlich alle absteigen mussten. Stau beim Radrennen. Die hier verlorene Zeit machten Philipp und ich am Gipfel wieder gut, in dem wir die erste Verpflegungsstation ebenfalls aufgrund von Überfüllung links liegen ließen.
Vertraute Alpen-Abfahrten
Nach jedem Anstieg folgt der schöne Teil: Die Abfahrt. Mittlerweile schien die Sonne das Tal unter uns bereits wunderschön aus und wir konnten das Panorama bei einer schnellen Abfahrt genießen. Was uns auffiel: Hier in der Abfahrt streckt sich das Feld noch einmal mehr als beim Anstieg, es gab ziemlich flotte aber auch ziemlich vorsichtige Bergabfahrer. Mit Philipp voraus fühlte ich mich sehr sicher und vertraut und so konnten wir die Kurven beim Höhenmeter-Vernichten in unserem vor zwei Jahren antrainierten Alpen-Tempo sicher herunterdüsen.
„Aqua per favore“
Im Tal bildeten sich wieder kleinere Gruppen, mit denen man nun zusammen über die flachen Stücke, teilweise auf schönen Radwegen am Fluss entlang, entspannt bis zur nächsten Verpflegungsstation fuhr. Körner sparen, wo es nur geht – immerhin stand gleich einer der härtesten Pässe der italienischen Alpen auf dem Programm: Der Mortirolo. Direkt nach der nächsten Pause an einer Tankstelle („Aqua per favore“) ging es rechts ab. Passenderweise direkt hinter einem Friedhof türmte sich die gefährliche Wand vor einem auf. Kleinster Gang rein und los. Fuhren Philipp und ich am ersten Anstieg noch zusammen, machten wir hier nun jeweils unser eigenes Tempo. Die Auffahrt nach Teglio, mit 400 Höhenmetern immerhin so hoch wie die Auffahrt zum Brocken, war nur ein kleines Warm-Up hiergegen. Nun galt es, die fast 1.200 Höhenmeter auf knapp 11 Kilometern zu bewältigen.
Auf der Suche nach Pacemakern
Die ersten Serpentinen lagen ziemlich schnell bereits hinter mir und Philipp verschwand irgendwann vor mir. Doch mein Tempo fühlte sich gut an, mein Puls nicht zu hoch und meine Beine machten einen gleichmäßigen Tritt. Zwischendurch fand ich immer mal wieder ganz gute Pacemaker, am längsten führte mich eine Südkoreanerin mit wirklich gutem Tempo den Berg hinauf. Doch irgendwann schalteten diese Mitstreiter dann doch noch einen Gang kleiner, den ich schon nicht mehr in Reserve hatte. Es half nichts: Weitertreten und, auch wenn es bereits weh tut, die Kurven hochquälen.
25 % Steigung? Come on…
Etwa nach der Hälfte folgte einer der steilsten Parts mit über 20 % Steigung. Viele mussten absteigen und ich war selbst ziemlich stolz, hier einmal durchziehen zu können und im Sattel bleibend diese Rampe überwunden zu haben. Jeder folgende Anstieg unter 10 % fühlte sich wie Bergabfahren an. Einige Zeit ging es so noch ganz gut weiter, immer im Hinterkopf, dass sich doch der letzte Teil des Anstiegs vor zwei Jahren irgendwie flacher anfühlte. Doch irgendwann merkte auch ich dann, dass das hier nicht die Auffahrt sein kann, die Philipp und ich schon einmal gefahren sind. Und so überraschte uns am Ende dann doch noch eine steile Rampe mit 25 % Steigung. Das war einfach zu hart: Mir fehlten mindestens drei weitere kleine Gänge, um das Rad stabil zu halten – es half nichts, ich musste, so wie fast alle, absteigen.
Kämpfe mit Krämpfen
Mittlerweile hatte ich Philipp wieder eingeholt, doch an das Austauschen motivierende Worte war jetzt nicht zu denken. Wir beide kämpften mit der recht engen, steilen und grob betonierten Straße, auf denen wir mit den Cleats unter unseren Schuhen nicht wirklich gut schieben konnten. Entsprechend meldeten sich die Beine und ließen die Muskeln krampfen. Kurze Pause in einer Kurve und den Anstieg genießen. Ein Engländer gesellte sich zu uns und brachte nur ein „never again…“ hervor. Und weiter. Irgendwann flachte der Anstieg dann doch wieder etwas ab und ließ das langsame Treten wieder zu. Als wäre ich in diesem Moment nicht fertig genug gewesen, führte mich jetzt ein mich überholender Italiener vor, der plötzlich in aller Ruhe anfing, beim Hochfahren zu telefonieren. Seine Kondition hätte ich jetzt gerne gehabt.
Flacher ist nicht gleich besser
Oben am Gipfel konnte man quasi jeder und jedem anderen im Gesicht ablesen, wie qualvoll diese letzten Kilometer waren. Umso mehr genossen Philipp und ich die Abfahrt, die wir wieder einmal fast nur für uns hatten. Zwar konnten wir am Ende der Abfahrt an der Pausenstation noch einmal unsere Tanks auffüllen, doch so schnell kamen die nach dem Mortirolo dringend benötigten Reserven nicht in den Beinen an. Entsprechend wurden die nun folgenden 30 Kilometer zurück nach Bormio zur eigentlichen Qual. Die Beine am Mortirolo quasi ausgefahren mussten wir jetzt genau die Strecke zurückfahren, über die wir uns nach dem Start noch gefreut hatten. Das Garmin zeigte in der Steigung zwar meist einstellige Werte, doch ohne Energie und mit prallender Sonne kam man trotzdem nicht wirklich voran.
Eng am Zeitlimit
Je näher Bormio rückte, desto mehr verließ mich die Motivation für den letzten Anstieg des Tages. Zwar durften (bzw. mussten) wir jetzt nicht mehr aufs Stilfser Joch hinauf, das nach einer schneereichen Woche leider noch wegen Lawinengefahr gesperrt war – doch auf die 725 Höhenmeter hoch zu den Cancano-Seen fehlte mir jetzt auch der Antrieb. Mir schwebten zwar noch ein paar motivierende Worte im Kopf – „der Anstieg ist ja sehr angenehm“ oder „der Ausblick da oben ist echt wunderschön“, wie es unsere AirBnB-Vermieterin Nicoletta noch betonte. Gleichzeitig wusste ich auch, dass wir immer näher an das Zeitlimit rückten, nach dem man nicht mehr den letzten Anstieg beginnen darf. Insgeheim hoffte während der Pause in Bormio noch, dass wir nicht mehr durchgelassen werden. Doch Philipp und die überaus schlechte Band an der Station motivierten dann doch, es zumindest mal zu probieren.
Am Ende der Kräfte
Als wären meine Kräfte nicht eh schon durch die letzten Strapazen komplett aufgebraucht, ging es nun also wieder bergauf. Und obwohl wir fünf Minuten nach dem Zeitlimit, das ich im Kopf hatte, am Anstieg ankamen, schien dort noch alles normal. Philipp sah sogar ein Schild, nach dem wir noch knapp zwei Stunden mehr Zeit gehabt hätten. Es half also nichts: Wir mussten weitertreten. Doch wie? In meinen Kopf blinkten bereits länger alle „Akku leer“-Lampen. Ich fand nicht wirklich in einen Rhythmus hinein, ließ Philipp wieder ziehen und legte noch zwei zusätzlich Pausen im Schatten von kleinen Sträuchen am Straßenrand ein. Noch weniger motivierend war, wie bereits ziemlich viele Finisher entgegenkamen.
Mit dem Klapprad auf den Berg
Auf der Hälfte des Anstiegs gab es noch ein letztes Mal eine Versorgungsstation – sogar inklusive „Bike Wash“, das wohl eher als „Cyclist Wash“ genutzt wurde. So fragte mich der Mann am Gartenschlauch, als ich vorbeifuhr: „Aqua?“ – „… … … No …“ – und da war ich schon nass. Die letzte Verschnaufpause wirkte aber anscheinend Wunder: Zwar kam ich weiterhin nur recht langsam bergauf, doch ich fand endlich einen gleichmäßigen Tritt und konnte die letzten Serpentinen nur so „hinauffliegen“. Highlight war, als ich einen Zivil-Fahrer auf einem Klapprad überholte und wir uns noch über das Rennen unterhielten. „Die kleine Runde wäre ich mit diesem Ding vielleicht auch noch mitgefahren“, erzählte er mir, und dass er seine Frau schon weiter unten an einem Kaffee-Stopp abgegeben hatte.
Auf Schotter zum Ziel
Zwei Kurven noch, dann eine, durch den Tunnel – und: Am Gipfel angekommen! Vor lauter Glück ignorierte ich sogar gekonnt den Fotografen. Philipp und ich lagen uns in den Armen. Ich hätte nicht gedacht, dass wir beide das noch komplett durchziehen. Über eine Schotterstraße ging es nun auf die Zielgerade am Stausee und wir konnten unsere verdiente Finisher-Cap entgegennehmen. Was für ein Event! Einziger Wehmutstropfen: Nach der schönen Abfahrt mussten wir immerhin noch wieder zur Unterkunft hinauf – doch ganz ohne Druck ging auch das gut. Im Endeffekt ging das Rennen dann doch mehr auf die Substanz, als ich dachte – fast zwei Wochen lang tat mir noch der Rücken weh. Anstrengend war es auf jeden Fall – doch auch unglaublich schön.