Was macht man, wenn man eine Tour geplant hat und die enthaltenen Pässe auch noch von einheimischen empfohlen bekommt? Ganz einfach: Fahren! So standen gestern der berüchtigte Mortirolo und der Gavia-Pass auf dem Programm.
Anfahrt auf Umwegen
Philipp: Da uns die Tour mit doppelter Überquerung des Stilfser Jochs etwas zu anstrengend erschien, bevorzugten wir die Anreise nach Bormio mit dem Auto. Am Frühstückstisch kamen dennoch kurz Überlegungen auf, ob das nicht doch machbar sei. „War doch gar nicht so schwer über das Stilfser Joch zu fahren.“ Die Gedanken verwarfen wir aber schnell wieder. Anlässlich des Feiertages in Italien starteten wir früh mit dem Auto, um dem größten Verkehr auf dem Stilfser Joch aus dem Weg zu gehen. Unterwegs zählten wir weniger als zehn Radfahrer, vielmehr Autos waren es auch nicht. Dies änderte sich auf der Abfahrt nach Bormio zunehmend, hier herrschte beschäftigtes Treiben.
Reizüberflutung in Bormio
In Bormio angekommen wurden wir vom Verkehr überrascht. Als junger deutscher Autofahrer muss man sich hier erst mal einfinden. „Finden“ mussten wir dann auch erst mal einen Parkplatz, da die meisten auf eine Parkdauer von 4 Stunden beschränkt waren. Nach einiger Sucherei fanden wir direkt an der Talstation einen Parkplatz und fingen an, unsere Räder aus dem Auto zu laden, uns zu rüsten und mit Sonnencreme einzuschmieren. Die Sonne stand schon recht hoch und brannte entsprechend.
Abwärts zum Mortirolo
Von Bormio aus ging es für uns 30 Kilometer schleichend bergab nach Mazzo di Valtelinna am Fuße des Mortiolos. Unser Durchschnittstempo lag bei ca. 32 km/h, obwohl wir kaum Druck auf die Pedale brachten. Wir flogen also durch Dörfer, die aufgrund ihres Leerstandes stark an Brandenburg erinnerten. Rechts und Links begleitet von hohen Bergen und der Sonne am Himmel, die uns schon ordentlich auf den Pelz brannte. Zudem verlief unsere Strecke direkt parallel zur stark frequentierten Schnellstraße. Ein Gefühl wie in Amerika.
„Das sieht ja gar nicht so steil aus“
Leider folgt auf jede Abfahrt auch wieder ein Anstieg. Dies wurde uns bewusst, als wir Grosotto durchquerten und der Mortirolo bereits ausgeschildert war. In Mazzo di Valtelinna angekommen durchkreuzten wir schmale Gassen auf Kopfsteinpflaster. Beim Gedanken an den kommenden Anstieg bekam ich immer wieder Gänsehaut und ehrfürchtige Gedanken. Dieser Anstieg wird also, wie allseits behauptet, tatsächlich im Kopf gewonnen. Auch beim Schreiben dieser Zeilen werden meine Hände bereits wieder feucht.
Es beginnt
Wir begegneten ein paar Rennradfahrern, die uns freundlich zuriefen, wir aber nicht verstanden. „No Italiano“. Vermutlich wollte man uns nur einen angenehmen Tod wünschen. Immer freundlich diese Italiener ;-) Die ersten Meter nach dem Foto verliefen noch harmlos, lediglich einstellige Steigungswerte zeigte das Garmin an, doch ehe wir uns versahen waren wir mitten drin im wohl härtesten Anstieg der Alpen. Ab nun zeigte das Garmin nur noch Werte um 14, 15, 18, 20% an. Wir kamen ganz schön ins Schwitzen. Die Suppe an Schweiß und Sonnencreme tropfte von der Stirn auf Lenker, Rahmen und Garmin. Mir war dies allerdings noch nie so egal, ich hatte andere Probleme.
Von der Sonne gegrillt werden, während andere grillen
So fuhren wir keuchend und gequält durch den Wald. Immerhin schützte uns dieser vor der Sonne, die es wohl nur noch schlimmer gemacht hätte. Je weiter wir nach oben kamen, desto mehr Ferienhäuser tauchten am Wegesrand auf. Der leckere Geruch von gegrilltem Fleisch wurde nun zwischenzeitlich zur Qual. „Warum tun wir uns sowas an, wenn man doch auch ruhig hier den Tag genießen könnte?“ Zwischendurch legten wir eine Pause ein, um zu verschnaufen. Dieser Berg ist echt eine ganz andere Hausnummer: „HC“ – Hors Catégorie eben.
Nur einmal überholt
Wir wurden unterwegs immerhin nur von einem Fahrer überholt. Ein echt gutes Zeichen für unsere Flachland-Fitness. Trotzdem demütigend, wenn jemand so locker die Anstieg hochfliegt. Mag vielleicht auch an unserer ungenügenden Übersetzung liegen. Vorne 52/36 – Hinten 11-28. Ein 30er- bzw. 32er-Ritzel wären wir sehr lieb gewesen. Leider schafft dies mein Schaltwerk nicht.
Pause bei Marco Pantani
In Kehre 11 machten wir eine etwas längere Foto-Pause am Denkmal von Marco Pantani. Hier trafen wir auch auf zwei Italiener, die wir mangels italienischen Sprachkenntnissen nur bedingt verstanden haben. Es reichte aber, um zu verstehen, dass der Pass oben einfacher wird und der Gavia-Pass ein Muss ist! Die Italiener fuhren weiter, wir standen noch etwas dumm rum.
Schlusssprint zum Gipfel
Nach ein paar Minuten holten wir unsere italienischen Bekanntschaften wieder ein und hängten uns an ihr Hinterrad. „Lass deinen Jagdinstinkt weg, die müssen wir nicht einholen“, sagte ich zu Max, da sein Tempo wieder merklich anzog. „Ich fahre nur mein Tempo“, verteidigte er. Also kurbelte ich langsam und beständig, damit keine Lücke zwischen Max und mir entstand. Irgendwann waren wir den Italienern so nah am Hinterrad, dass ich mich entschied, an ihnen vorbei zu ziehen. Laut Garmin war es kein Kilometer mehr bis zur Spitze. Angespornt durch die Schriftzüge mit den Namen der Radprofis, zog ich das Tempo merklich an und gab mein Bestes. Max folgte mir dicht am Hinterrad – wir gönnen uns wie immer nichts ;-) Es war ein tolles Gefühl, den Berg herauf zu fliegen und die Beine brennen zu spüren. Dieser Berg tut echt weh, aber Flowbiker schaffen im Team alles!
Tränen vor Stolz
Oben angekommen, kamen mir vor Stolz die Tränen. Ein vorbeifahrender Radfahrer klopfte mir auf die Schulter. Max und ich beschlossen vor dem obligatorischen Gipfelfoto den Brunnen etwas weiter unten zum Befallen unserer Wasserflaschen zu nutzen. Apathisch stand ich dort am Brunnen und ließ Wasser in die Flasche laufen. Was sich die Gruppe Wanderer dort wohl gedacht haben mag? ;-)
Abwärts vom Mortirolo
Die Abfahrt machte danach erst recht Spaß. Zwar mussten wir unsere Windjacken anziehen und die Sonnencreme in den Ärmeln verteilen, aber das war nur das kleinste Problem. Die Straßen im Wald waren teilweise sehr eng und mit Gegenverkehr versehen. Immerhin mit recht wenigen Serpentinen, sodass wir mit etwas Konzentration gut im Ort Monno angekommen sind. Dort gab es glücklicher Weise wieder einen Brunnen für unsere Trinkflaschen, denn der folgende Anstieg zum Gavia Pass stand bevor.
Auch flache Anstiege können weh tun
Max: Nach der schnellen Abfahrt vom Mortirolo ging es von der bisher eher ruhigen Strada Provinciale wieder auf eine gut befahrene Strada Statale – eine Bundesstraße. Damit nahm auch der Autoverkehr wieder deutlich zu – die Straße durch das Tal in Richtung des beliebten Urlaubsortes Ponte di Legno wurde immer voller. Dazu brannte uns die Sonne auf der Haut und der durchgehende, im Vergleich zum gerade geschafften Mortirolo zwar leichte Anstieg von etwa zwei bis fünf Prozent schien mit dem Rückenwind erst einmal machbar zu sein, doch nach kurzer Zeit machten sich unsere mittlerweile schon gut erschöpften Beine dann doch bemerkbar.
„Schaffe ich den Pass überhaupt noch?“
Kurz hinter Ponto di Legno legten wir an einem vollen Parkplatz für einen Grill- und Campingplatz an einem Fluss dann eine kurze Schattenpause ein. In einem Informations-Pavillon gönnten wir beide uns dann noch einmal Energieriegel und -Gel, bevor es gleich noch einmal über 1,2 vertikale Kilometer in die Höhe gehen sollte. An dieser Stelle fühlte ich mich bereits schon irgendwie leer und etwas grau und hätte auf der Stelle einschlafen können – doch: „Nützt ja nichts“, also halbwegs aufgeladen wieder rauf aufs Rad und dem Straßenschild in Richtung „Passo Gavia“ gefolgt.
Schattenreicher Anstieg
Die dicht befahrene Hauptstraße verließen wir kurz darauf, um einige der gesammelten Höhenmeter wieder zu vernichten und am Ende der Stadt auf den eher ruhigen Pass abzubiegen. Das versprach uns zumindest die jetzt schmalere Straße und der Bericht auf quäldich.de. Doch ganz so ruhig wie erwartet war die Auffahrt dann gar nicht, was vielleicht auch am Feiertag lag. Die erste Hälfte des Anstieges führte uns glücklicherweise meist durch Wald, durch den sich die Kehren schlängelten. Im Schatten ließ es sich bei den Temperaturen um 30 °C doch deutlich angenehmer klettern. So langsam schien bei mir auch der Energieriegel zu wirken und anstatt nur im Tunnel hinter Philipp zu kleben, konnte ich jetzt auch erstmals wieder die bereits weiten Ausblicke durch die Bäume hindurch genießen.
Wer hupt, hat keine Schuld
Spätestens nach einigen Kehren hätte mich wohl auch etwas anderes aus meiner Trance gerissen: Die Straße wurde immer enger und mittlerweile war es für zwei Autos bereits schwierig, sich auf den geraden Abschnitten zu begegnen – von den Kehren ganz abgesehen. In italienischer Manier wurde deshalb immer vor jeder Kehre gehupt. Ganz getreu dem Motto: Ich habe ja gehupt, jetzt wäre der andere Schuld. Entsprechend begleitete uns ein wahres Konzert aus Hupen die nächsten Kehren aus dem Wald heraus. Hier erwarteten uns nicht nur weite Ausblicke über die atemberaubende Landschaft, sondern auch endlich mal wieder Steigungen im einstelligen Bereich, bei denen man entspannen konnte.
Wenn Motivationsrufe zu Orientierungshilfen werden
Während wir beide noch nach einem auf dem Passbericht angekündigten See suchten, tauchte vor uns etwas anderes auf, vor dem gewarnt wurde: Ein etwa 800 Meter langer und unbeleuchteter Tunnel, der nicht sehr schön zu befahren sei. Rücklichter hatten wir leider nicht dabei, daher ging es auf gut Glück und durch Echolot-Rufe („Allez, Allez!“ stellte sich als sehr hilfreich heraus, um entgegenkommende Radfahrer ohne Licht zu warnen) durch den wider Erwarten eigentlich ganz gut zu fahrenden Tunnel. Leider konnte man so fast komplett im Schwarzen auch nicht sehen, wie steil man steigt, daher gaben wir beide trotzdem ordentlich Gas und benötigten nach dem Tunnel erst einmal wieder eine Pause. Kurz darauf erschien auch endlich der erwartete See in hochalpiner Lage – wieder einmal Ausblicke, die alle bisherigen Quälereien belohnten.
Wieder schneller als die Italiener
Jetzt folgte der Gavia-Pass auf seinen letzten Kehren und einer letzten steilen Rampe einer eher steinigen Mondlandschaft, ehe wir bereits den Gipfel einige Meter höher ausmachen konnten. Noch einmal alle Reserven gezündet, wieder zwei Italiener überholt (der eine schob sogar sein Rad schon kurz an der steilen Rampe), den letzten Schlaglöcher gekonnt ausgewichen und dann endlich oben angekommen: Geschafft! Nach dem bereits sehr krassen Mortirolo hatten wir doch tatsächlich noch den Gavia bezwungen. Passend dazu kam die Sonne noch einmal richtig heraus und trocknete unsere vom Schweiß durchnässten Trikots noch einmal etwas, bevor wir uns nach dem standardmäßigen Gipfel-Foto recht schnell wieder auf die Abfahrt wagten.
Abfahrt in der Autokolonne
Die war ein Wechselbad der Straßenbeläge: Ging es zuerst auf frisch asphaltiertem Belag los, so wechselte die Abfahrt gerne mal überraschend auf den bereits in die Jahre gekommenen Teer mit seinen zahlreichen Schlaglöchern, die bei knapp 50 km/h besonders gefährlich schienen. Doch dank Philipp als Lotsen meisterten wir auch diese Passagen und rollten den Gavia nur so königlich hinab – bis uns eine Autokolonne stoppte, die aufgrund eines Busses etwas ausgebremst wurde. Dieser schlossen wir uns dann notgedrungen an und konnten so auch auf den kurzen geraden Abschnitten recht zügig nach Bormio zurückrasen, wo unser Auto schon auf uns wartete. Stolz wie Oskar, mit einem einzigen Wermutstropfen: Jetzt mussten wir noch einmal per Auto über das Stilfser Joch fahren. Doch auch das ging zu später Stunde einfacher und ruhiger als gedacht. In der Pension fix geduscht und uns mit Südtiroler Käsegnocken belohnt – und dann nur noch müde ins Bett gefallen. Heute stand passenderweise nur die Überfahrt nach Imst an – hier warten ab morgen bereits die nächsten Pässe auf uns.